Wie der Americans with Disabilities Act (ADA) die USA veränderte und anderen Staaten als Vorbild dient

Die Schweizer Delegation informiert sich über das Konzept des U.S. Access Boards, das Standards und Richtlinien zur Barrierefreiheit umsetzt. Foto: Brittany Lynk

Dieser Artikel erschien in Zeitschrift von agile.ch
Behinderung & Politik – 2/2018 – Vorwärts mit der Gleichstellung!


Was machen amerikanische Organisationen anders, und was könnte auch in der Schweiz umgesetzt werden? Diese Fragen nahmen fünf Experten/Expertinnen, die sich in der Schweiz für gleiche Rechte und Chancen für Menschen mit Behinderungen engagieren, mit auf eine 10-tägige Studienreise in die USA. Das Programm organisierte und ermöglichte das Aussenministerium der USA, basierend auf einer Initiative der amerikanischen Botschaft in Bern.

Am 17. Januar 2018 kam die Schweizer Gruppe bei eisigen Temperaturen in Washington DC an und wurde herzlich empfangen von den Studienreisebegleitern Kent Moorhead und Brittany Lynk. Kernthemen des Programms waren die Umsetzungsprozesse von rechtlichen Rahmenbedingungen, selbstbestimmtes Leben, Integration am Arbeitsplatz und in der Schule sowie E-Accessibility.

Ein heftiger Auftakt
Die ersten Tage verbrachte die Schweizer Delegation in Washington DC, wo verschiedene Treffen mit Behörden und Institutionen auf dem Programm standen. Im Vordergrund standen die Umsetzungsmöglichkeiten von rechtlichen Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene für Menschen mit Behinderungen. Ein intensiver Einstieg für die Teilnehmer/-innen: «Wir hatten bis zu fünf Treffen pro Tag und kämpften gegen Jetlag und Winterkälte.» Die gute Laune und der Humor gingen ihnen trotzdem nicht abhanden. So wurden sie bereits am zweiten Tag herzlich mit den Worten begrüsst: «We have already heard that you are a sharp and funny group.» (Wir haben schon gehört, dass Sie eine aufgeweckte und lustige Gruppe sind.) In Washington erlebten die Schweizer hautnah, was es bedeutet, wenn sich die Demokraten und Republikaner im Kongress nicht über das Budget einigen können und es zum «Shutdown» kommt. Glücklicherweise konnten alle Treffen mit den Bundesbehörden noch vor deren Stilllegung abgehalten werden.

Highlight Women’s March
Eliane Scheibler von Inclusion Handicap war beeindruckt vom Women’s March. Die Rednerinnen und Teilnehmenden machten sich mit pointierten Aussagen und konkreten Strategien gegen die Diskriminierung von Frauen und Mädchen und generell für eine inklusive Gesellschaft stark. Dass sich auch Selbstvertreter/-innen mit Behinderungen und ihre Organisationen beteiligten, war selbstverständlich. Für sie wurde eigens eine barrierefreie «ADA section» eingerichtet. «Der Women’s March war ein kleines Highlight», verriet uns Eliane und ergänzt: «Die Rechtsansprüche in den USA gehen weiter als in der Schweiz, vor allem auch gegenüber Privaten, die gegen das Diskriminierungsverbot verstossen. Zudem bestehen stärkere Instrumente zu ihrer Durchsetzung. » Generell lässt sich sagen, dass die Bereiche, die vom ADA geregelt werden, institutionell besser verankert sind. Vorbildlich sind in diesem Zusammenhang auch die zentralen Beschwerdemeldestellen, ein Durchsetzungsinstrument, das in der Schweiz fehlt. Interessant auch, dass in den USA die meisten Beschwerdendank Mediation erledigt werden.

Mitten im amerikanischen Leben
In Washington DC war auch ein Kulturtag eingeplant mit Stadtführung, Museumsbesuchen und der Broadway Show «On Your Feet». Das mit Audio-Deskription angebotene Musical war besonders für den stark sehbehinderten Daniele Corciulo ein interessantes Erlebnis. Für die Gruppe waren Danieles Rückmeldungen jeweils sehr wichtig. Als E-Accessibility-Experte der Schweizer Stiftung Access for All interessierte er sich für die Entwicklung der Sprachsoftware von verschiedenen Automaten (z.B. Bankautomaten) sowie die Zugänglichkeitder Webseiten. Er erlebte einige Highlights, aber auch Enttäuschungen, als er in eine Kinovorstellung ohne Audio-Deskription ging. Daniele beeindruckte nicht nur als 3D-Fotograf, sondern auch als Karaoke-Star. Seine Auftritte, und jene sämtlicher Gruppenmitglieder, werden in die Karaoke-Geschichte von San Francisco und Albany eingehen, passend zu ihrem Ruf: «A sharp and funny group the 5 Swiss».

Und in der Arbeitswelt
Ein Schwerpunkt des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) ist die Chancengleichheit im Arbeitsbereich. Markus Riesch, der im Namen des EBGB an der Studienreise teilnahm, interessierte sich für die nationalen Programme, die für die Arbeitgeber erstellt wurden, um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen im Arbeitsmarkt zu fördern. Weitere Initiativen, die er mit nach Hause nahm, sind barrierefreie Rekrutierungsinstrumente, die speziell auf HR-Leute zugeschnitten
sind und Menschen mit Behinderungen in der Jobvermittlung unterstützen, Sensibilisierungskampagnen sowie das Konzept des U.S. Access Boards, das Standards und Richtlinien zur Barrierefreiheit umsetzt. Die Erfolgsfaktoren für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in den USA sind für Markus Riesch unter anderem das «Disability Mainstreaming» über alle Ebenen hinweg. Das heisst, dass die Anliegen von Menschen mit Behinderungen zum wichtigen Bestandteil von Prozessen in Politik, Verwaltung, Gesellschaft und Wissenschaft werden – von Beginn an und nicht erst, nachdem die Entscheide gefallen sind. Weiter die niederschwelligen Möglichkeiten, Beschwerden einzureichen,
die erfolgreiche Zusammenarbeit von Behörden und Zivilgesellschaft sowie die tiefgreifenden Vorgaben der Gesetzgebung mit vor allem ADA und Rehabilitation ACT für Behörden, aber auch Privatwirtschaft.

Fortschrittliche Unis
Die zweite Reiseetappe führte die Gruppe nach San Francisco, wo die Umsetzung des ADA auf lokaler Ebene, E-Accessibility und die Integration an Universitäten auf dem Programm standen. Nun lässt sich natürlich die University of California (UC) Berkeley nicht ohne weiteres mit der Universität Zürich vergleichen, allein der Grösse wegen. Aber Benjamin Börner, der die Fachstelle Behinderung und Studium an der Universität Zürich leitet, war dennoch beeindruckt, als er hörte, dass an der UC Berkeley 36 Personen für die Gleichstellung
von Menschen mit Behinderungen zuständig sind. Skripte, Lernstoff und Infos rund um das Universitätsleben werden vermehrt über digitale Kanäle vermittelt. Die Ausbildungsstätten sind deshalb besonders gefordert, wenn es darum geht, die Barrierefreiheit von Informationen zu gewährleisten. Überzeugend und nachahmenswert  fand Benjamin Börner im Bereich E-Accessibility das Teilen und Bereitstellen von barrierefreien Erzeugnissen auf einer Datenbank. Der kalifornische Hochschulverbund CSU (California State University), der aus 23 Mitgliedern besteht, unterstützt einen solchen Dokumentenaustausch. Positiv beurteilte Benjamin Börner auch den Wettbewerb unter den kalifornischen Universitäten. So wird periodisch darüber informiert, welche Uni in Kalifornien die Zugänglichste für Menschen mit Behinderungen ist.

Wettbewerb als Chance
Auch Thomas Schuler, Fachbereichsleiter Behindertenpolitik der interkantonalen Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), war der Meinung, dass der Wettbewerbsgedanke Chancen für die Gleichstellung bietet. So werden die US-amerikanischen Bundesstaaten regelmässig in öffentlich publizierten Ranglisten daran gemessen, wie gut sie den ADA umsetzen. Diese Form von «freundschaftlichem Wettbewerb», könnte man in der Schweiz gut ausprobieren, waren sich die Teilnehmenden einig, vorausgesetzt,
es finden gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit und ein reger Austausch über «good practices» zwischen den Kantonen statt.

Erfolgsfaktor Zusammenarbeit
Die dritte und letzte Etappe führte die Gruppe an die Ostküste nach Albany, wo das selbständige Wohnen und die Integration an Schulen im Fokus standen. Mehrere Bundesstaaten verfolgen den Abbau von Wohninstitutionen und geschützten Werkstätten zugunsten der Integration von Menschen mit Behinderungen in die Gemeinschaft bzw. in den offenen Arbeitsmarkt. Positiv aufgefallen ist der Schweizer Gruppe, dass es in den USA starke Partnerschaften zwischen der öffentlichen Hand und der Zivilgesellschaft gibt. Die Zusammenarbeit zwischen Behörden, nichtstaatlichen Organisationen und Non-Profit-Organisationen wird immer wieder als wichtigster Erfolgsfaktor für eine gelungene Gleichstellungspolitik bezeichnet. Thomas Schuler ist ein Beispiel einer gelungenen öffentlich-privaten Partnerschaft in Erinnerung geblieben: Ein Bundesstaat gewährte einem privaten Immobilienbesitzer einen Steuerabzug, wenn er seine Wohnungen im Rahmen eines Projekts für selbständiges Wohnen zu einem reduzierten Mietzins an Menschen mit Behinderungen vermietet.

Schulen ohne Berührungsängste
Die Shaker High School in Albany ist ein gutes Beispiel für die integrative Beschulung von Jugendlichen mit Behinderungen auf der Oberstufe. Auch Jugendliche mit schwereren Beeinträchtigungen besuchen einen möglichst grossen Teil des Unterrichts in den Regelklassen, wo ihnen eine Vollzeit-Unterstützung zur Verfügung steht. Zusätzlich werden manche individuell in sogenannten «Ressourcenräumen» gefördert. Diese Räume sind bewusst über das ganze Schulareal verteilt, um eine Abtrennung der Jugendlichen mit Behinderungen zu verhindern; zudem findet in verschiedenen Gefässen immer wieder ein Austausch mit Jugendlichen ohne Behinderungen statt. In der Schweiz ist man auf Oberstufenniveau noch weit von einer integrativen Schule entfernt. Zum Abschluss stand ein sogenannter «Home Hospitality» Anlass auf dem Programm. Die Schweizer wurden von zwei amerikanischen Familien zu einem ungezwungenen gemeinsamen Abend eingeladen.

Zurück in der Schweiz das Resümee
Was kann die Schweiz besser machen? Einige Voten: Die Amerikaner sind pragmatischer, packen einfach an und handeln. Es entstand der Eindruck, dass vor allem auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene viele Pilotprojekte an die Hand genommen werden. Generell gibt es weniger Berührungsängste und Barrieren in den Köpfen. In der Schweiz fehlt es oft an der Umsetzung oder am Bewusstsein. Genannt wurden auch die bessere Gesetzeslage und die Personalressourcen in den USA – vor allem zur Um- und Durchsetzung des ADA. Nicht vergessen sollte man allerdings, dass die USA auf eine längere Gleichstellungsgeschichte zurückblicken kann als die Schweiz. Die Schweiz hat also noch Potenzial.